Meine Schwester leidet seit zwei Jahren an Diabetes mellitus Typ 1. Im Grunde genommen hat sie ihre Stoffwechselerkrankung gut im Griff, was sich daran zeigt, dass ihr Diabetologe mit ihrer Einstellung sehr zufrieden ist und sie wiederum seine Therapievorschläge (größtenteils) im täglichen Leben umsetzt. Was mich allerdings beunruhigt, ist ihre krankhafte Angst vor Unterzuckerungen.
Das gestaltet sich so extrem, dass sie, wenn sie sich nicht in ihrem gewohnten Umfeld aufhält, jede Stunde ihren Blutzucker misst und sogar hohe Werte in Kauf nimmt, um sich vor einer „Hypo“ zu schützen. Und wenn wir einen gemeinsamen Ausflug antreten wollen, kontrolliert sie mindestens zehnmal, ob sie auch ausreichend Traubenzucker und Gummibärchen in ihrer Handtasche verstaut hat. Meiner Meinung nach grenzt dieses Verhalten schon fast an eine Phobie. Ich finde es ja gut, dass sie ihre Werte gewissenhaft überprüft, allerdings empfinde ich ihren Messdrang in oben genannten Situationen und ihre ausgeprägte Angst vor Unterzuckerungen schon als krankhaft, da diese ihre Lebensqualität stark beeinträchtigen.
Unlängst habe ich im Internet Erkundigungen eingezogen, und festgestellt, dass meine Schwester keinen Einzelfall verkörpert. Während die einen eine Phobie vor „Hypos“ haben, graut es anderen davor, sich Insulin mit einem Pen zu verabreichen, weil sie Panik vor der Nadel haben. Andere Diabetiker wiederum vermeiden es aus einem Schamgefühl heraus, sich in der Öffentlichkeit Insulin zu injizieren.
Als ich meiner Schwester davon erzählte und ihr die Links zu entsprechenden Internetbeiträgen überreichte, reagierte sie zunächst empört. Nach einer Woche suchte sie das Gespräch mit mir: „Jochen“, meinte sie, „das ist ja unglaublich, was ich alles gelesen habe. Es gibt sogar Diabetiker, die sich bewusst zu wenig Insulin verabreichen, um über den Urin vermehrt Glukose auszuscheiden – und das in der Hoffnung, dass sie damit abnehmen. Das ist doch Wahnsinn.“
Hoch und heilig versprach sie mir, zeitnah das Gespräch mit ihrem Diabetologen zu suchen, um diesen über ihre „Hypo“-Panik zu unterrichten. Anschließend schmiedeten wir Pläne für eine Radtour am nächsten Tag. Vor Fahrtantritt glaubte ich, meinen Augen nicht zu trauen: Mein tausendprozentiges Schwesterherz schaute nur einmal kurz ins Seitenfach ihres Rucksacks, um zu murmeln: „Traubenzucker und Gummibärchen sind griffbereit. Alles ist gut“